Die grösste Revolution seit dem Internet
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Die grösste Revolution seit dem Internet

Von Cuno Pfister

Das Internet der Dinge gehört aktuell zu den Top­themen im IT-Umfeld. Was sich tatsächlich dahinter verbirgt, wie das Erfolgsgeheimnis von Uber auf IoT-Geschäftsmodelle anwendbar ist, was die Entwicklung für herkömmliche Unternehmen bedeutet und wem am Ende welche Daten gehören – darauf gibt der nachfolgende Artikel Antworten und Anstösse zum Diskutieren.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2015/11

     

Das Internet der Dinge (englisch Internet of Things, oder kurz IoT) ist zur Zeit eines der am meisten «gehypten» Schlagwörter der Informatik. Doch worum handelt es sich dabei eigentlich?
Hinter dem Internet der Dinge steckt die Idee, physische Produkte oder Dienstleistungen mit digitalen Services zu verbinden. Damit sollen Prozesse optimiert, der Komfort erhöht oder neue Geschäftsmodelle ermöglicht werden. Nachfolgend ein Beispiel für diese abstrakte Beschreibung.

Das Uber-Prinzip

Ein Auto kann dank GPS heute «wissen», wo es sich gerade befindet. Navigationssysteme erleichtern Lenkern das Leben, wenn sie die Route nicht kennen (erhöhter Komfort). Die Verbindung mit dem Internet erlaubt einem Navi wiederum, Stau-Situationen bei der Routenberechnung zu berücksichtigen und die aktuell beste Route zu finden (optimierter Prozess). Das Auto kann seine aktuelle Position auch über das Internet an einen Service schicken. Dies ermöglicht einen Taxidienst wie Uber, welcher dank ausgeklügelter Algorithmen effizient Kunden die verfügbaren Taxifahrer zuordnet und damit Wartezeiten, Leerfahrten und Kosten reduziert (erhöhter Komfort für Kunden und Fahrer sowie optimierter Prozess). Dabei besitzt Uber keine eigenen Taxis, sondern bringt lediglich Fahrer und Kunden zusammen und erhält im Gegenzug einen Anteil des Fahrpreises. Während Taxizentralen traditionell lokale Insti­tutionen sind, skaliert das Uber-Modell dank Internet global (neues Geschäftsmodell) – deshalb wird Uber heute mit über 50 Milliarden Dollar bewertet.
Bei Uber wird also eine physische Dienstleistung – der Transport von Personen von A nach B – mit einem digitalen Service verbunden. Dabei dient ein Smartphone als Schnittstelle, einerseits zum Internet und anderseits zur physischen Welt, dank eingebautem GPS-Empfänger und Mobilfunk. Und natürlich ist es auch die Schnittstelle zum Fahrer, mittels Touchscreen und Lautsprecher. Ein modernes Smartphone enthält heute eine ganze Reihe von Sensoren: Mikrophon, Kamera, GPS-Empfänger, Beschleunigungsmesser, Kompass, zum Teil sogar Sensoren für Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Über Sensoren können per Software physische Merkmale der Umgebung gemessen werden. Über Aktuatoren kann ein Smartphone die Umgebung zudem in einem bescheidenen Ausmass beeinflussen, mittels Bildschirm, Lautsprecher und einem Motor zur Erzeugung von Vibrationen.

Stationär, mit vielen Besitzern


Smartphones sind wichtige Schnittstellen zwischen physischer und digitaler Welt. Sie stellen neben Sensoren und Aktuatoren auch einen Internet-Anschluss und erhebliche Rechenleistung zur Verfügung, sind preiswert und allgegenwärtig. Smartphones sind persönliche und mobile Geräte, sie bewegen sich mit ihren Besitzern mit. Für viele Sensoren und erst recht für Aktuatoren macht das hingegen keinen Sinn. Ein Pflanzensensor muss in der Erde stecken, und ein Motor zum Öffnen eines Fensters muss im Fenster stecken – nicht im Smartphone. Es gibt also viele IoT-Geräte, welche nicht mobil sind, sondern stationär in einem Haus, einer Fabrik oder im öffentlichen Raum platziert werden. Ausserdem gehören viele IoT-Geräte nicht einer Einzelperson, sondern einer ganzen Familie, einem Unternehmen oder der öffentlichen Hand.

IoT revolutioniert Industrie

Eine Möglichkeit, das Internet der Dinge sehr grob zu kategorisieren, ist die Unterteilung in Consumer IoT und Industrial IoT. Das Consumer IoT umfasst Geräte von Privatpersonen oder Familien, zum Beispiel Thermostaten, Fitnessarmbänder oder Hörgeräte. In öffentlichen Diskussionen wird das Internet der Dinge oft gleichgesetzt mit dem Consumer IoT. Es gibt jedoch auch ein industrielles IoT, welches Geräte von Unternehmen oder der öffentlichen Hand umfasst, zum Beispiel für die Arealüberwachung einer Fabrik oder für die Früherkennung von Schäden in einem Wasserkraftwerk. Während diese IoT-Anwendungen weniger Publicity erhalten, könnten sie langfristig einen grösseren Markt darstellen. Ein vielzitiertes Beispiel aus diesem Bereich stammt von General Electric: GE bietet Flugzeugtriebwerke an, die sich quasi selbst zum Service anmelden, wenn sie bei sich ungewöhnliche Messwerte feststellen.
Da nicht mehr der Mensch alle Informationen eintippen muss, sondern sensorgestützte Geräte diese Aufgabe übernehmen, können viel häufiger viel genauere Messungen durchgeführt werden. Die Messresultate sind zudem dank Internet sofort weltweit verfügbar. Damit kann ein sehr viel präziseres und gleichzeitig aktuelleres digitales Bild der Welt geschaffen werden.

Es kann auch sofort und über Distanz eingegriffen werden, etwa indem eine Maschine via Internet umkonfiguriert wird. Durch die Verknüpfung und Auswertung von Datenströmen von mehreren Geräten – Stichworte Big Data, Stream Analytics und Machine Learning – können verschiedenartige Prozesse übergreifend optimiert werden. Dazu zählen etwa die Reduktion des Spritverbrauchs einer Fahrzeugflotte durch kürzere Routen, die Reduktion der Stillstandzeiten von Anlagen, die sogenannte Sharing Economy statt individuellem Besitz von schlecht ausgelasteten Werkzeugen, massive Reduktion des Gifteinsatzes in der Landwirtschaft oder auch die Vermeidung von tausenden von Verkehrstoten pro Jahr durch selbstfahrende Fahrzeuge (mehr Beispiele auf S. 40).
Durch den verbesserten Einblick in Prozesse können in
vielen Fällen bessere Entscheidungen getroffen werden, da anstatt mit groben Erfahrungswerten oder Bauchgefühl mit aktuellen Daten und schnellen Regelkreisen gearbeitet werden kann.

Das Geschäft mit den Daten

Auf der anderen Seite stellen sich durch den «schärferen Blick» auch neue oder verschärfte Herausforderungen – insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Daten. Wo dürfen medizinische Daten abgelegt werden, und wie müssen sie gesichert werden? Wem gehören die Messdaten, die eine Druckmaschine liefert: dem Druckmaschinenhersteller oder der Druckerei? Darf eine Drohne mit hochauflösender Kamera über meinen Garten fliegen? Welche individuellen Gesundheitsdaten darf eine Versicherung bei der Kalkulation einer Police – oder der Ablehnung eines Kunden – berücksichtigen?
Oder Fragen wie: Wer ist haftbar, wenn ein selbstfahrendes Auto in einen Unfall verwickelt ist? Wann wird jemand, dessen Service von einem digitalen Dienst vermittelt wurde (z.B. ein Taxifahrer) zu einem Mitarbeiter des Service – beziehungsweise wie werden faire Sozialleistungen sichergestellt? Wie geht man damit um, dass bisher durch die Geographie geschützte Dienstleistungen, zum Beispiel Taxizentralen, plötzlich übermächtigen globalen Konkurrenten gegenüberstehen, und damit oft eine «the winner takes it all»-Situation entsteht, bei der in einem Geschäftsbereich ein bis zwei globale Konzerne den grössten Teil des möglichen Gewinns abschöpfen? Was heisst es für eine traditionelle Firma, wenn sie für ihre Branche plötzlich eine Cloud-Infrastruktur und Apps à la Uber entwickeln und betreiben, oder als Software-Firma plötzlich Hardware ent­wickeln und vertreiben müsste? Wie geht man systematisch mit den Sicherheitsbedrohungen um, die das Internet der Dinge mit sich bringt?

Abwarten und Tee trinken gilt nicht mehr


Falls das Internet der Dinge tatsächlich eine ähnliche Revolution wie das Internet selbst wird, oder sogar ein noch grössere, dann sollte es nicht erstaunen, dass sich eine Menge derartiger Fragen stellen. Um sie beantworten zu können, muss man das Internet der Dinge hinreichend gut verstehen. Auf der einen Seite kann alleine schon die technische Komplexität des Themas, im Bild oben angedeutet, entmutigend wirken. Denn können sich Einzelpersonen oder auch Kleinfirmen in einem solchen Umfeld überhaupt zurechtfinden, geschweige denn behaupten?
Auf der anderen Seite gibt es auch sehr ermutigende Signale. So hat sich zum Beispiel eine rege globale Szene von Hobby­isten gebildet, die sogenannte Maker-Bewegung. Auch in der Schweiz treffen sich Maker und andere Akteure zum Beispiel beim Internet of Things Meet-­up in Zürich oder bei den Hackdays von Opendata.ch. Auf der akademischen Ebene gibt es in der Schweiz zum Beispiel in Zürich und St. Gallen diverse Aktivitäten zum Thema Internet der Dinge. Mehrere Internet-der-Dinge-Start-ups, so zum Beispiel Koubachi mit ihrem Pflanzensensor, sind in der Schweiz bereits entstanden. Auch in Grossfirmen ist wichtiges Know-how vorhanden, zum Beispiel bezüglich Low-Power-Mikroelektronik in der Swatch Gruppe.
Es existiert also durchaus ein frucht­barer Boden in der Schweiz in Bezug auf das Thema Internet der Dinge. Die Herausforderung liegt wohl primär in der weiteren Vernetzung und Zusammenarbeit, sowie der nötigen Einsicht, dass «Abwarten und Tee trinken» in einer globalen digitalen Welt riskant geworden ist.

Internet of Things

Der Begriff «Internet of Things» wurde 1999 von Kevin Ashton geprägt. Er wollte damit ausdrücken, dass Phänomene der physischen Welt mittels Sensoren und Internet der digitalen Welt zugänglich gemacht werden können. Dies im Gegensatz zu herkömmlichen Inhalten aus dem Internet, welche von Menschen eingegeben werden, mit allen daraus resultierenden Beschränkungen, Verzögerungen, Kosten und Fehlern.
Ursprünglich waren mit «Things» relevante Phänomene an sich gemeint, zum Beispiel der Stress-Level einer Pflanze, die zu wenig Wasser hat. Heute assoziiert man mit «Things» oft die Internet-verbundenen Gadgets, welche die Phänomene beobachten oder beeinflussen, zum Beispiel ein WiFi-Pflanzensensor.
Es gibt viele verwandte Begriffe, zum Beispiel Machine to Machine, kurz M2M, oder Industrie 4.0. M2M kommt aus der Ecke der Mobilfunkindustrie, das heisst es handelt sich um Geräte, die über Mobilfunk mit dem Internet verbunden sind und eine SIM-Karte enthalten. Bei Industrie 4.0 handelt es sich um eine deutsche Initiative, mit der Produktionsprozesse flexibler gestaltet werden sollen, bis hin zur kostengünstigen Produktion von Unikaten («Losgrösse eins»).

Der Autor

Dr. Cuno Pfister ist Geschäftsführer von Oberon Microsystems, das als Engineering Dienstleister bereits vor 15 Jahren erste Internet-der-Dinge-Anwendung entwickelt hat. Oberon unterstützt Kunden als «Bergführer» bei der Entwicklung disruptiver Innovationen im Bereich Internet der Dinge. Eigene Produkte sind Oberon HAP (http://oberonhap.com), eine Implementierung von Apples Homekit Accessory Protocol, und Limmat (http://www.limmat.co), ein lizenzierbares Referenzdesign für industrielle Internet of Things Gateways.


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