Personalentwicklung im digitalen Zeitalter
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Personalentwicklung im digitalen Zeitalter

Von Daniela Kudernatsch

Im digitalen Zeitalter benötigen die Mitarbeiter der Unternehmen nicht nur neue Kompetenzen, auch eine langfristige Personalplanung und -entwicklung ist kaum noch möglich. Deshalb ­überarbeiten zurzeit viele Unternehmen ihre Personal- und Führungskräfteentwicklungskonzepte.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2017/10

     

Digital Leadership", "Digital Leader" – seit zwei, drei Jahren geistern diese Begriffe durch die Management-Diskussion. Dass sie auf eine so grosse Resonanz stossen, liegt unter anderem daran, dass die Unternehmen zunehmend erkennen: Die fortschreitende Digitalisierung stellt ausser unseren Organisationsstrukturen auch unsere bisherigen Personalentwicklungskonzepte in Frage.

Strategische Personalentwicklung am Scheideweg

Als Gründe hierfür werden oft genannt:
• Eine langfristig orientierte Personalentwicklung und -planung ist in der VUCA-Welt (Abkürzung der Worte Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity) kaum noch möglich, weil sich die Strategien der Unternehmen und ihre Art, Probleme zu lösen, immer rascher ändern. Deshalb wissen die Unternehmen heute noch nicht, welche Kompetenzen sie und somit ihre Mitarbeiter in drei, fünf oder gar zehn Jahren brauchen.
• Der Veränderungs- und somit Lernbedarf ist in den Unternehmen heute oft so gross und dringlich, dass er zentral, also zum Beispiel von den Personalabteilungen, nicht mehr erfasst und in der erforderlichen, kurzen Zeit mit zentral organisierten Personalentwicklungsmassnahmen befriedigt werden kann.
• Der Qualifizierungsbedarf der Mitarbeiter ist in der digitalen Welt – unter anderem aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktion in den Unternehmen und beruflichen Biografie – so verschieden, dass er top-down immer weniger befriedigt werden kann.

Personalentwickler werden Dienstleister

Daraus zogen viele Unternehmen bereits folgende Schlüsse:
• Die Verantwortung für die Personalentwicklung muss sich stärker auf die operative Ebene (also die Bereichs-, Abteilungs-, Teamebene) verlagern.
• Die Personalentwicklung muss sich stärker am individuellen Bedarf der Mitarbeiter und den Herausforderungen, vor denen sie aktuell stehen, orientieren.
• Die Mitarbeiter müssen mehr Eigenverantwortung dafür zeigen, dass sie kurz-, mittel- und langfristig über die benötigte Kompetenz verfügen (Stichwort: Employability). Und:
• Die Führungskräfte müssen ihre Mitarbeiter beim Entwickeln ihrer Kompetenz unterstützen und begleiten.

Dadurch verändert sich die Funktion der Personalentwicklungsabteilungen in den Unternehmen. In der Vergangenheit war eine ihrer Kernaufgaben, ausgehend von den strategischen Zielen des Unternehmens, den kurz-, mittel- und langfristigen Qualifikationsbedarf in der Organisation zu erfassen und über zentral geplante und gesteuerte Massnahmen den Gap zwischen benötigter und vorhandener Qualifikation zu schliessen. In der VUCA-Welt verschiebt sich ihre Funktion in Richtung eines Kompetenzentwicklungs-Dienstleisters für die Führungskräfte und Mitarbeiter, der diese bei der weitgehend selbstgeplanten und -gesteuerten Kompetenzentwicklung unterstützt. Ausserdem bleibt es ihre Aufgabe, bei der Kompetenzentwicklung für ein gewisses Alignment zu sorgen, damit kein Wildwuchs entsteht – also die Kompetenzentwicklung so weit zu koordinieren, dass zum Beispiel:
• die Führungskräfte weitgehend dasselbe Führungsverständnis haben und
• die Projektmanager nicht nur dasselbe Projektmanagement-Verständnis haben, sondern auch weitgehend dieselben Projektmanagement-Tools nutzen.


Diese Dienstleister-Rolle zu akzeptieren, fällt mancher Personalentwicklungsabteilung schwer – auch weil damit nach Auffassung vieler Personalentwickler ein Bedeutungsverlust einhergeht. Zudem bedeutet dieser Funktionswandel: Die Personalentwickler müssen sich stärker als bisher auf die Shopfloor-Ebene, also an den Ort des Geschehens, begeben und sich mit den operativen Prozessen auf der Bereichs-, Abteilungs- und Teamebene befassen.

Führungskräfte werden (Digital) Leader

Doch auch die Funktion von Führung wandelt sich – unter anderem, weil heute in den meisten Unternehmen deren Kernleistungen in bereichs- und hierarchie- und oft sogar unternehmensübergreifender Team- und Projektarbeit erbracht werden. Das heisst: Die Bereichs- und Abteilungsgrenzen werden durchlässiger und verlieren an Bedeutung. Für die Führungskräfte bedeutet dies: Sie müssen zunehmend in vernetzten Strukturen denken. Und: Sie müssen gute Netzwerker sein – unter anderem, damit sie bereichsübergreifend im Dialog mit ihren Kollegen die Arbeitsstrukturen und -beziehungen so gestalten können, dass die (Bereichs- und Unternehmens-)Ziele erreicht werden.


Der zentrale Treiber dieser Entwicklung ist die Informationstechnologie. Sie ermöglicht neue Problemlösungen und durchzieht heute die meisten Unternehmen wie das Nervensystem den menschlichen Körper. Das bedeutet für die Führungskräfte: Sie müssen künftig stärker in digitalen Zusammenhängen denken und einschätzen können, was aktuell und in naher Zukunft technologisch möglich ist. Zugleich wird es verstärkt ihre Aufgabe, ihren Mitarbeitern vor Augen zu führen, welche Herausforderungen und Chancen sich hieraus ergeben; des Weiteren sie dazu zu ermutigen, diese aktiv zu nutzen.
Das setzt voraus, dass die Führungskräfte auch selbst bereit sind, ihre Denk- und Verhaltensgewohnheiten zu überdenken. Sie müssen sich zudem eingestehen, dass sie in der VUCA-Welt (allein) oft nicht über das erforderliche Wissen, Können und Know-how verfügen, um eine adäquate Lösung zu entwerfen. Also müssen sie offen sein für Rat und Unterstützung – sei es von Kollegen aus anderen Bereichen, externen Beratern oder Experten im eigenen Bereich, die bezogen auf die aktuelle Herausforderung einen Know-how- oder Erfahrungsvorsprung haben. Eine entsprechende Unterstützung müssen sie ihrerseits wiederum ihren Mitarbeitern gewähren – beim Lösen ihrer Aufgaben und beim Entwickeln ihrer Kompetenz.


Verabschieden sollten sich die Digital Leader von morgen zudem von der Fiktion: Veränderungen sind in der VUCA-Welt langfristig und im Detail planbar. In ihr gilt es, wenn weitreichende Veränderungen anstehen oder langfristige (Entwicklungs-)Ziele erreicht werden sollen, vielmehr ähnlich wie beim klassischen Lean Management vorzugehen, das auf eine kontinuierliche Verbesserung abzielt: Also ausgehend von einer vorläufigen Planung die ersten Schritte tun. Dann evaluieren: "Erzielen wir durch die Massnahmen die gewünschte Wirkung?" Und dann abhängig vom Ergebnis, den Kurs entweder korrigieren oder den eingeschlagenen Weg weiter gehen. Das setzt voraus, dass die Führungskräfte in einem regelmässigen, von Vertrauen geprägten Informationsaustausch mit ihren Mitarbeitern stehen, und sie und ihre Mitarbeiter bereit sind, sich Fehlversuche einzugestehen.

Digital Leader sind Lean Leader

Einen solchen, von wechselseitigem Vertrauen, Kooperation auf Augenhöhe und regelmässiger (Selbst-)Reflexion geprägten Führungsstil praktizieren noch wenige Führungskräfte. Deshalb feilen zurzeit viele Unternehmen an neuen Konzepten, wie sie ihren Führungs(nachwuchs)kräften die Kompetenzen vermitteln können, die sie im digitalen Zeitalter brauchen Dabei orientieren sie sich häufig am Lean-Leadership-Development-Modell.

Dieses Modell unterscheidet in der Kompetenzentwicklung von Führungskräften vier Stufen.


Stufe 1: Sich als Führungskraft selbst entwickeln. Dahinter steckt die Annahme, dass in der VUCA-Welt eine Kernkompetenz von Führungskräften ist, das eigene Verhalten und Wirken zu reflektieren und die eigene Performance systematisch zu erhöhen.

Stufe 2: Andere Menschen coachen und entwickeln. Die zweite Kompetenz-Stufe besteht in der Fähigkeit, als Führungskraft andere Personen so zu entwickeln, dass diese ihrerseits die Kompetenz erwerben, ihr Verhalten und ihr Wirken zu reflektieren und eigene Lernprozesse zu initiieren.

Stufe 3: Das tägliche Sich-Verbessern (Kaizen) unterstützen. Hier geht es darum, Gruppen von Mitarbeitern (Teams, Abteilungen, Bereiche) in eine Richtung auszurichten und den kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu sichern.

Stufe 4: Eine Vision schaffen und die Ziele abstimmen. In die letzte Entwicklungsstufe ist idealerweise die gesamte Organisation involviert. Nun geht es darum, bereichs- und hierarchieübergreifend alle Aktivitäten so aufeinander abzustimmen, dass die übergeordneten Unternehmensziele erreicht werden, die Organisation für die VUCA-Welt gewappnet ist und eine High-Performance-­Organisation ist und bleibt.

Unternehmen werden lernende Organisationen

Von einer Führungskräfteentwicklung, die sich an diesem Kompetenz-Modell orientiert, versprechen sich die Unternehmen eine höhere Innovationskraft ihrer Organisation; ausserdem, dass sie sukzessiv zu einer Entlastung der Führungskräfte führt – und zwar in dem Masse, wie ihre Mitarbeiter die Kompetenz entwickeln, eigenständig ihr Verhalten und ihre Wirkung zu reflektieren und sich zu entwickeln. Denn je mehr Mitarbeiter eine gewisse Routine im eigenständigen Erkennen und Lösen von Problemen entwickelt haben, umso seltener müssen ihre Führungskräfte korrigierend und unterstützend eingreifen. Das entlastet sie. Und das Unternehmen? Es ist für das digitale Zeitalter und die VUCA-Welt gewappnet, da es sich zu einer lernenden Organisation entwickelt hat.

Die Autorin

Daniela Kudernatsch ist Inhaberin der Unternehmensberatung Kudernatsch Consulting & Solutions in Strasslach bei München. Sie ist Autorin mehrerer Fachbücher zum Thema Strategie­umsetzung. 2013 erschien ihr Buch "Hoshin Kanri – Unternehmensweite Strategie­umsetzung mit Lean-Management-Tools".
Telefon: +49 8170 92233; www.kudernatsch.com


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