Digitalisierung und Life Long Learning - Floskeln oder Facts?
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Digitalisierung und Life Long Learning - Floskeln oder Facts?

Von Jörg Aebischer

In der IT-Branche wird heute die Bedeutung des lebenslangen Lernens stark propagiert. Doch was steckt genau hinter diesem Modebegriff und wie können IT-Fachkräfte dieser Herausforderung begegnen?

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2018/03

     

"Life Long Learning", das lebenslange Lernen, ist, genau gleich wie die "Digitalisierung", eines der gegenwärtigen Business-­Modewörter schlechthin. Beide Begriffe werden oft im gleichen Umgang erwähnt. Der Grundtenor lautet: "Wer die Digitalisierungswelle überleben will, der beziehungsweise natürlich auch die muss sich täglich fit halten, sich mit den neuesten technologischen Möglichkeiten auseinandersetzen, sich geistig und beruflich laufend wandeln und weiterentwickeln, und das ein Leben lang." Das klingt sehr anstrengend! Wie lebenslänglich halt. Doch Angst ist ein schlechter Ratgeber. Letztlich ist die ganze Entwicklung von Menschen gemacht und deshalb nicht "unmenschlich". Wir haben schon immer täglich und das ganze Leben lang gelernt. Das können wir. Also keine Angst davor. Die Chancen sind weit grösser als die Gefahren, jedoch ist das Bewusstsein um die neuen Anforderungen und Möglichkeiten wichtig, um sich im Weiterbildungsdschungel zurecht zu finden.


Digitalisierung ist messbar

Das Berufsfeld der ICT, das heisst die Anzahl der Mitarbeitenden, die als ICT-Fachkräfte tätig sind, wächst fast viermal so schnell gegenüber der Zahl der Gesamtbeschäftigten in der Schweiz. Das bedeutet, dass der Anteil der ICT-Beschäftigten im Verhältnis zu allen Beschäftigten immer grösser wird. Die Digitalisierung ist keine Fiktion, sondern eine Realität, die sich anhand dieser Entwicklung messen lässt. Ein weiterer Indikator dafür ist, dass die Digitalisierung die ganze Wirtschaft durchdringt. So kann man beobachten, dass immer mehr ICT-Fachkräfte in Nicht-­IT-Unternehmen, den sogenannten Anwenderunternehmen wie zum Beispiel Industrie- oder Handelsfirmen, arbeiten. Die Digitalisierung der Prozesse auf allen Ebenen und in allen Wirtschaftszweigen ist der Haupttreiber der aktuellen Diskussionen um die Qualifikation und die Weiterbildung von Mitarbeitenden.

Bildungsbedarf ist riesig

Wenn es um die Qualifikation von Mitarbeitenden geht, dann sind immer zwei Dimensionen betroffen: Einerseits die Weiter- oder immer häufiger auch die Umbildung der im Arbeitsprozess stehenden Personen, andererseits die Ausbildung von Nachwuchskräften. Die Herausforderung für den ICT-Bildungsmarkt ist deshalb riesig. Nur schon der zusätzliche Fachkräftebedarf bis 2024 beträgt rund 75’000 Berufsleute. Nicht enthalten in dieser Zahl sind all diejenigen Arbeitskräfte, die sich zusätzliche ICT-Kompetenzen aneignen werden, damit sie den veränderten Anforderungen der Arbeitswelt entsprechen. Von den zusätzlich benötigten ICT-Fachkräften vermag das Bildungssystem heute nur gerade mal knapp 30’000 Personen neu auszubilden. Der Mangel lässt sich nur in der Kombination von Zuwanderung (ca. 20’000 Personen) und zusätzlichen Bildungsanstrengungen (ca. 25’000 Personen) bewältigen. Parallel dazu muss unsere Wirtschaft die Voraussetzungen schaffen, damit die bestehenden Mitarbeitenden, und zwar insbesondere auch die Nicht-ICT-Fachkräfte, mit der stark durch die Digitalisierung getriebenen Entwicklung mithalten können.

Unternehmen und Mitarbeitende sind gefordert

Aus ökonomischer Sicht sind sowohl die Unternehmen als auch die Mitarbeitenden gefordert, wenn es um das Thema Fachkräftequalifikation geht. Die Unternehmen können nur erfolgreich wirtschaften, wenn ihre Mitarbeitenden über die nötigen Qualifikationen verfügen. Insbesondere wenn es um ICT-Kompetenzen geht, stehen am Arbeitsmarkt zu wenig Personen zur Verfügung, als dass die Ressourcen einfach in Form von Neuanstellungen beschafft werden können. Die Unternehmensverantwortlichen sind gut beraten, das Heft selber in die Hand zu nehmen, indem sie den eigenen Nachwuchs selber ausbilden und in die Weiterqualifikation der bestehenden Belegschaft investieren. Ein gut unterhaltener Maschinenpark und eine gepflegte Infrastruktur sind für die meisten Unternehmen eine Selbstverständlichkeit und finden in den Budgets mit stolzen Beträgen ihren Niederschlag. Für Aus- und Weiterbildung werden noch allzu oft nur ungenügend Ressourcen eingeplant. Würden für den Kompetenzerhalt der Mitarbeitenden im gleichen Umfang Finanzmittel investiert, wie zum Beispiel für Abschreibungen auf Mobilien und Immobilien, dann würde sich die Fachkräftesituation wohl anders präsentieren als sie es insbesondere im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie tut. Natürlich lassen sich aber Kompetenzen nicht einimpfen. Das heisst: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind mindestens gleich stark gefordert wie die Arbeitgeber, sich für die Arbeitswelt fit zu halten. Analog zum obigen Investitionsbeispiel für die Unternehmen kann man für Mitarbeitende auch sagen, dass es sich auszahlt, wenn diese für die Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen im gleichen Mass Zeit und Geld aufwenden wie für Ihre körperliche Fitness und Gesundheit. Letztlich geht es um Job-Fitness. Unternehmen und Mitarbeitende sind also gleichermassen gefordert. Der Eine kann nicht ohne den Anderen erfolgreich wirtschaften.

Bildung im Unternehmen ist zentral

Wer die Gegebenheiten kennt, weiss, dass die Bildung und deren enge Verzahnung mit der Unternehmenswelt ein wesentlicher Grund für die Wirtschaftskraft in der Schweiz ist. Insbesondere die Berufsbildung leistet dazu einen grossen Beitrag. Gerade im hochqualifizierten Berufsfeld der ICT wird dieser Wert von vielen Unternehmen oft noch zu wenig erkannt. In der Tat ist es so, dass rund 80 Prozent der ICT-Fachkräfte über einen sogenannten Tertiärabschluss, also eine Ausbildung auf Stufe der höheren Berufsbildung oder auf Hochschulniveau, verfügen. Es sind denn auch diese Profile, die am Markt gesucht werden. Der Blick in die Bildungsstruktur zeigt aber deutlich, dass jährlich nur gerade einmal etwas über 400 Personen einen rein akademischen IT-Abschluss erlangen. Der weitaus grösste Anteil des ICT-Nachwuchses entstammt der Berufsbildung, wo auch die Fachhochschulen zuzurechnen sind, da für ein Fachhochschulstudium eine Berufslehre die Voraussetzung bildet. Konkret heisst das, dass über 90 Prozent der jährlichen Neuabschlüsse in der ICT auf die Berufsbildung und damit auf das Engagement der Wirtschaft zurückzuführen sind. Die Unternehmen sind schon heute die wichtigsten Ausbildungsstätten in der Schweiz. Die betriebliche Bildung wird im Zuge der sich rasant wandelnden Anforderungen noch stark an Bedeutung zunehmen. Unternehmen, die sich davor verschliessen und sich nicht an der Aus- und Weiterbildung der Mitarbeitenden beteiligen, werden es schwer haben, ihre Aufgaben mit gut qualifiziertem Personal zu erfüllen.

Lebenslanges Lernen ist nicht neu, nur anders

Unternehmen und Menschen entwickeln sich, zumindest in den weitaus meisten Fällen, stetig weiter. Aus ökonomischer Perspektive tun sie dies im Idealfall sogar gemeinsam. Es ist eine lange Tradition, dass Unternehmen in der Schweiz Lernende ausbilden und sich auch stark an der Weiterbildung der Mitarbeitenden beteiligen. Das ist grundsätzlich nichts Neues. Wenn heute von "Life Long Learning" gesprochen wird, dann beinhaltet das aber schon etwas anderes als das traditionelle Aus- und Weiterbildungsmodell. Zwei Dinge sind fundamental anders: Erstens haben die beruflichen Handlungskompetenzen, also das, was man tatsächlich bewiesen hat zu können, künftig eine weitaus grössere Bedeutung als die blossen Papiere eines formalen Ausbildungsabschlusses. In Stellenausschreibungen werden immer seltener bestimmte formale Bildungsabschlüsse verlangt. Der Fokus liegt auf einem bestimmten Setting an Kompetenzen. Und zweitens wird in Zukunft der grösste Teil der Aus- und Weiterbildung losgelöst von Schulhäusern und Seminarräumen stattfinden, nämlich direkt dann und dort, wo die Kompetenzen gebraucht werden; "Just-in-Time-Learning" also. Diese Entwicklung ist nicht nur für Bildungsanbieter, sondern auch für Berufsverbände wie ICT-Berufsbildung Schweiz als Trägerin der formalen Bildungsabschlüsse im Berufsfeld der Informatik und Mediamatik eine grosse Herausforderung. Zum einen werden die klassischen Bildungsgefässe, -abschlüsse und auch -kurrikula an Bedeutung verlieren, zum anderen wird es aber gerade im diesem Umfeld eine Art "Bildungswährung" brauchen, die in einer einfachen, transparenten und glaubwürdigen Form die Existenz der ausgewiesenen Kompetenzen bestätigt. Und dabei können insbesondere eidgenössische Berufs- und höherer Fachprüfungen eine ganz neue Bedeutung erlangen. Wer über einen eidgenössischen Fachausweis oder ein eidgenössisches Diplom in einem bestimmten Gebiet verfügt, kann die informell erworbenen Kompetenzen formell belegen.

Aus- und Weiterbildung im Taschenformat

Die Digitalisierung bietet fantastische Möglichkeiten für individuelles, orts- und zeitunabhängiges Lernen. Das folgende Bespiel soll verdeutlichen, wohin die Reise geht: Den Softwaregiganten Microsoft kennen alle (1,2 Mia. Nutzer), das soziale Online-Netzwerk Linkedin kennen fast alle (500 Mio. Nutzer), den Online-­Kursanbieter Lynda.com kennen immer mehr (ca. 6 Mio. Online-Studenten) und ebenso den Online-Lernvideo-Verlag ­Video2brain. Richtig interessant wird es erst, wenn man den folgenden Zusammenhang kennt: 2013 hat Lynda.com Video2brain übernommen (100 Mio. US-Dollar), 2015 übernahm Linkedin dann Lynda.com (1,5 Mia. US-Dollar) und 2016 hat Microsoft schliesslich Linkedin übernommen (26 Mia. US-Dollar). Damit ist Microsoft in den Besitz des grössten Business-Netzwerks und der wohl potentesten Online-­Akademie gekommen. Microsoft ist an praktisch jedem Büroarbeitsplatz präsent, mit Office365 auch kollaborativ und interaktiv. Mit einem Schlag stehen unzählige Online-Kurse bei uns auf dem Bürotisch und mit dem Smartphone auch in der Jackentasche immer verfügbar parat. Gelernt kann dann werden, wenn es am besten passt. Wer einen Kurs erfolgreich abschliesst, erhält auch gleich das entsprechende Online-Zertifikat von Lynda.com, welches natürlich sofort das Kompetenzprofil bei LinkedIn ergänzt und dem Arbeitsmarkt zur Einsicht zur Verfügung steht.

ICT-Berufsfeld bietet beste Perspektiven

ICT-Fachkräfte sind sehr gesucht. Dementsprechend sind die Berufsaussichten äusserst rosig. Rund 10’000 Stellen sind laufend offen, die meisten davon im Bereich Software-Entwicklung. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Informations- und Kommunikationstechnologien in allen Branchen und Unternehmen nimmt aber auch der Anteil der gesuchten ICT-Führungskräfte stark zu. Die Digitalisierung ist ein Thema, das die Geschäftsleitungen beschäftigt. Entsprechendes Know-how bei den Führungskräften ist für den Unternehmens­erfolg essentiell. Aus- und Weiterbildungen für Kader im ICT-Umfeld gewinnen an Bedeutung. Während Fach- und Methodenkompetenzen relativ rasch im Rahmen der oben aufgezeigten neuen Möglichkeiten erworben werden können, ist das für die insbesondere bei Führungskräften zentralen Selbst-, Sozial- und Führungskompetenzen nur schwer möglich. Für die Vorbereitung auf eine Führungsaufgabe werden Bildungsanbieter und anerkannte Zertifikate von Berufsverbänden in der Schweiz eine weiterhin grosse Bedeutung haben.

Der Autor

Jörg Aebischer ist der erste Geschäftsführer des im Jahr 2010 gegründeten Verbands ICT-Berufsbildung Schweiz. 2015 hat ihn der Bundesrat in die eidgenössische Berufsbildungskommission gewählt. Vor seiner Tätigkeit bei ICT-Berufsbildung Schweiz war Aebischer während sieben Jahren als Direktor eines privaten kaufmännischen Bildungsunternehmens tätig, zuvor arbeitete er während zehn Jahren bei einer führenden Beratungsgesellschaft als Unternehmensberater für Personal und Organisation. Während zehn Jahren dozierte er nebenamtlich für Personalmanagement an der Universität St. Gallen. Aebischer studierte an der Universität Bern Betriebswirtschaft und Recht und erwarb an den Universitäten St. Gallen und Berkley (USA) einen Executive MBA in Business Engineering. Per Mitte Jahr gibt er die Geschäftsführungsaufgabe ab, um eine eigene Firma in den Bereichen Digitalisierung, Bildung und Ökonomie zu gründen.


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